Kaum zu glauben, aber wahr. Wir sind rund um die Welt gereist, doch Budapest haben wir bisher noch nicht besucht. Obwohl die ungarische Hauptstadt nur 300 Kilometer von unserer alten Heimat Banat entfernt ist, die sich am südöstlichen Rande der Großen Pannonischen Tiefebene in Rumänien befindet. Deshalb nehmen wir den 150. Geburtstag von Budapest zum Anlass, um in die Metropole an der Donau zu reisen, die am 17. November 1873 durch den Zusammenschluss der Städte Pest (Pesth), Buda (Ofen) sowie Óbuda (Alt-Ofen) gegründet wurde. Und bis zum Vertrag von Trianon 47 Jahre lang Hauptstadt des Königreiches Ungarn war, zu dem auch das Banat gehörte. Die Jubiläumsfeierlichkeiten begannen zwölf Monate vor dem eigentlichen Geburtstag und dauern zwei Jahre. Also nichts wie hin!
Kaum sind wir an dem im Neorenaissancestil errichteten Kopfbahnhof Keleti angekommen, holt mich die Vergangenheit ein. Obwohl ich mich noch nie dort befunden habe. Vor 32 Jahren bin ich auf dem Weg ins Banat ein einziges Mal ohne anzuhalten durch Budapest gefahren. Im Frühjahr 1989 sollte ich auf Vorschlag der Neuen Banater Zeitung (NBZ) zum Erfahrungsaustausch mit der Volkswacht in die Temeswarer Partnerstadt Gera reisen. Jedes Jahr kamen zwei Redakteure aus Thüringen zur NBZ und umgekehrt. Als mein Antrag auf einen Besucherpass von den Behörden bearbeitet wurde, stellten sie fest, dass meine Familie die Ausreiseformulare für Deutschland eingereicht hatte. Der für die NBZ zuständige Securitate-Offizier kritisierte die Chefredaktion: "Und so einen schlagt Ihr für den Austausch vor." Doch ich kam ohne Rausschmiss davon, da meine Eltern die Formulare an meiner Stelle unterschrieben hatten. Das ergab die graphologische Untersuchung meiner Schriftprobe beim Geheimdienst. Ich blieb also weiter bei der NBZ - aber zu Hause. Der Kollege fuhr allein in die DDR, kam aber nicht in Gera an. Er stieg am Bahnhof Keleti aus und setzte sich nach Deutschland ab. Ich hatte das erst bei der Rückreise vor.
Jetzt steigen wir in Keleti aus und fahren ins Hotel. Es liegt zentral auf der Pester Seite. Nach dem Einchecken machen wir uns gleich auf den Weg. Denn wir wollen in sechs vor uns liegenden Tagen je mehr von Budapest sehen und kennenlernen. Natürlich zu Fuß, wie Gerti und ich das gewohnt sind. In der Nähe des Hotels zieht die Große Markthalle unsere Blicke schlagartig an. Ihre spektakuläre Bauweise ist eine Mischung aus Neugotik und Neorenaissance, das Dach mit bunten Zsolnay-Keramikfliesen geschmückt, ein Markenzeichen ungarischer Architektur. Im Inneren explodieren unsere Geschmacksknospen angesichts der Fülle an kulinarischen Köstlichkeiten. Im Obergeschoss wehen uns aromatische Düfte aus dem Feinschmeckerparadies entgegen. Das Wasser läuft uns im Mund zusammen. 180 Stände und kleine Läden laden zum Probieren und Genießen ein. Das knusprige Fladenbrot Langosch riecht nach Knoblauch, das Gulasch duftet würzig, wie daheim in der Banater Küche. Mhh, lecker. Guten Appetit!
Wir verlassen die Markthalle und schlendern über die grüne Freiheitsbrücke. Nach 333 Metern kommen wir auf der anderen Donauseite in Buda am Fuße des Gellértberges an. Und steigen bis zur Zitadelle auf dem 235 Meter hohen Gipfel, von wo aus wir das beeindruckende Panorama der ungarischen Hauptstadt in vollen Zügen genießen. Wieder unten spazieren wir auf der einladenden Donaupromenade, den Gellértberg zu unserer Linken. Und plötzlich sehen wir ihn mit dem ausgestreckten rechten Arm dastehen - den Heiligen Gerhard, nach dem der Berg benannt wurde. Das Denkmal des Bischofs befindet sich inmitten einer reizvollen Landschaft mit einer prächtigen Kolonnade hinter und einem rauschenden Wasserfall unter ihm. Neben Gerhard stehend schauen wir neugierig auf die quirlige Hauptstadt. Deren Patron hat als Schutzheiliger und Symbolgestalt der Donauschwaben einen wichtigen Bezug zum Banat. Er war erster Bischof der dortigen historischen Diözese Tschanad, die im Jahr 1030 von König Stephan I. gegründet wurde. Der Nationalheilige Ungarns christianisierte die heidnischen Magyaren und ließ seinen Sohn Imre acht Jahre lang vom Bendediktinermönch Gerhard von Csanád erziehen.
In der nach ihm benannten römisch-katholischen Pfarrkirche von Tschanad befindet sich der Sarkophag, in dem seine Reliquien aufbewahrt wurden. Heute dient er als Altartisch, wo am vergangenen 24. September während der Diözesanwallfahrt zum Hochfest des Heiligen Gerhard ein Festgottesdienst stattfand mit Seiner Exzellenz Giampiero Gloder, Apostolischer Nuntius für Rumänien und die Republik Moldau. Das imposante Budapester Gerhard-Denkmal soll an jener Stelle stehen, an der der Geistliche am 24. September 1046 von heidnischen Ungarn, in einem Bischofswagen festgebunden, den Berg zum Donauufer hinabgestürzt wurde und den Märtyrertod fand. Als er versuchte, sich aufzurichten, stießen ihm die Heiden eine Lanze in sein Herz und enthaupteten ihn.
Während ich vom Denkmal oben die weiße Elisabeth-Brücke unten bewundere, die nach Kaiserin Elisabeth benannt wurde und trotz ihrer Schlichtheit elegant aussieht, fällt mir unwillkürlich meine erste Fahrt 1992 ins Banat ein. Damals gab es noch keine Autobahn um Budapest herum. Stattdessen ging es mitten durch die verkehrsreiche Metropole. Zwei Jahre nach der Auswanderung fuhr ich mit Vater heim und über diese Brücke. Nach ihrer Überquerung musste man beim Abbiegen aufpassen, um sich nicht zu verfahren. Wir haben es auf Anhieb geschafft, andere nicht. Mutter saß zeitgleich in einem Reisebus. Obwohl die beiden Schofföre regelmäßig auf dieser Strecke unterwegs waren, bogen sie falsch ab und fanden nicht mehr aus der Stadt heraus. Sie mussten einen Taxifahrer gegen Entgelt bitten, den Bus aus Budapest zu lotsen.
Die Erzsébet-Brücke, wie sie von den Ungarn bezeichnet wird, ist die nächste Brücke unterhalb der ikonischen Kettenbrücke, dem weltbekannten Wahrzeichen von Budapest. Das Wunderwerk überspannt die Donau majestätisch auf fast 400 Metern und wurde knapp zweieinhalb Jahre lang anlässlich des 150. Geburtstages der ungarischen Hauptstadt umfassend renoviert. Gewaltige Ketten laufen durch klassizistische Bögen, die auf zwei aus der Donau ragenden triumphbogenartigen Stützpfeilern ruhen. Die Brücke wird bei Einbruch der Dunkelheit mit LED-Lampen in verschiedenen Farben beleuchtet, manchmal auch in jenen der ungarischen Nationalflagge. Deshalb ist es abends besonders schön, über die angestrahlte Kettenbrücke zu gehen und das imponierende Panorama zu genießen: die im Lichtschein glitzernde Donau, den sternenklaren Himmel, die bunt beleuchteten Boote, die erfrischende Brise, den milchigen Glanz des Mondes. Für Budapest ist der Text von Peter Maffays berühmtem Lied unzutreffend. Nicht über sieben Brücken wie in seiner Rockballade muss man hier über die Donau gehen, sondern über elf. Und bei jeder einzelnen ist es ein packendes Erlebnis.
Genauso wie der Besuch des anderen berühmten Wahrzeichens. Das 120 Jahre alte Parlament gehört wie die Kettenbrücke zum Weltkulturerbe. Ein gigantischer am Donauufer gelegener Bau, dessen neugotische Fassade mit vielen Türmen und Giebeln eher an einen Palast erinnert. Es ist das drittgrößte Parlament der Welt und abends fast noch schöner als tagsüber, wenn seine intensive Beleuchtung die Besucher magisch anzieht. Darunter sind viele Kreuzfahrttouristen, die mit zahlreichen Bussen jeden Abend auf die gegenüberliegende Seite der Donaupromenade gebracht werden, um Fotos, Filme und Selfies vom Parlament in seiner vollen Pracht zu machen. Wir bewundern das monumentale Gebäude aus allen Perspektiven, tagsüber, nachts, aus dem Rundfahrtbus, während einer Schifffahrt auf der Donau. Es ist ein starker Magnet, der die Massen zauberisch anzieht. Kein Wunder, dass wir jeden Abend zu ihm spazieren und uns trotzdem nicht sattsehen können.
Während der Panorama-Sightseeingtour mit dem Boot fallen mir unsere Vorfahren ein, die es vor dreihundert Jahren nicht so angenehm auf der Donau hatten wie wir jetzt. Sie suchten ein besseres Leben und fuhren auf Initiative und Förderung der Habsburger in drei Schwabenzügen mit Ulmer Schachteln aus vielen Teilen des Heiligen Römischen Reiches ins Banat, das sie aus einem Sumpfgebiet in die Kornkammer Europas verwandelten.
Gerne schlendern wir auf der Váci utca, die parallel zur Donau verläuft. Sie ist die bekannteste Flaniermeile der Stadt mit einladenden Gaststätten und schicken Einkaufsläden, in der das Herz von Budapest vibriert. Im Mittelalter verlief hier die Stadtgrenze. Die meisten Gebäude stehen unter Denkmalschutz. Viele Häuser besitzen wie in Temeswar prächtige Jugendstilfassaden. Ein Hauch der Banater Hauptstadt umweht uns. Auf einer Fassade sehen wir das riesengroße Konterfei von Ferenc Puskás, mit Rückennummer 10 und dem Schriftzug "The true legend". In der Tat: Die Legende lebt, obwohl Puskás seit 18 Jahren tot ist. Er wurde in Budapest geboren und ist hier gestorben. Wir besuchen sein Denkmal in der Wienstraße im III. Bezirk. Die Bronzefigurengruppe zeigt den ungarischen Jahrhundertfußballer im Anzug mit dem Ball jonglierend inmitten von begeisterten Kindern, denen er die Beherrschung des runden Leders zeigt. Schräg gegenüber befindet sich der Puskás Pancho Sport Pub, eine Sportsbar mit Flachbildfernsehern.
Der große Puskás hatte eine familiäre Verbindung ins Banat. Davon erzählte mir der Kollege Oskar Beck, einer der bekanntesten deutschsprachigen Sportkolumnisten (Die Welt, Stuttgarter Zeitung). Dass Puskás früher Purczeld hieß und donauschwäbischer Abstammung war, habe ich in meinem Sportbuch geschrieben. "Seine Vorfahren sind Pfälzer gewesen", sagte Beck. Er schildert in seinem Buch "Und alles wegen Ali" eine Episode mit Puskás, den er im Dezember 1975 während des Urlaubes in einem Strandhotel in Tunesien traf: "Von seinen deutschen Wurzeln hat Puskás erzählt, vom Opa, den es ins Banat verschlagen hatte, und dass sie ihn, den kleinen Ferenc, in seiner Jugend in Budapest immer den ´Sváb‘ genannt hatten." Wie und weshalb sein Großvater ins Banat kam, hat Puskás nicht gesagt. Während unseres Besuches konnte ich es nicht in Erfahrung bringen. Die Ungarn haben ihren Nationalhelden komplett vereinnahmt, hören nicht gerne von seiner donauschwäbischen Abstammung. Über eine verwandtschaftliche Beziehung von Puskás ins Banat teilte mir Robert Follmer aus Großjetscha mit: "Meine Oma Katharina Hollerbach, geborene Krohn, aus Perjamosch hatte mir als Kind mehrmals erzählt, dass sie mit Ferenc Puskás verwandt sei." Nach ihm ist das größte Fußballstadion des Landes benannt. Das frühere Népstadion wurde abgerissen, fast vollständig neu aufgebaut und in Puskás Aréna umbenannt, zu Ehren des Kapitäns der legendären ungarischen Nationalmannschaft. Die Wunden, die durch ihre Niederlage im Weltmeisterschaftsfinale gegen Deutschland 1954 in der Schweiz entstanden, sind bis heute nicht verheilt. Das wurde mir bewusst, als wir vor der 67.215 Plätze fassenden Sportstätte stehen, deren moderne Fassade durch eine Edelstahlhaut dynamisch gestaltet wurde. Das Metallgewebe passt sich perfekt an die funktionale Stadionarchitektur an, verleiht der Arena Volumen und Form.
Ein anderer bekannter Fußballer kommt oft nach Budapest: László Bölöni. In dreizehn Jahren bestritt er 104 Länderspiele für Rumänien, gewann mit Steaua Bukarest den Europapokal der Landesmeister. Er lebt in Nizza an der Côte d'Azur, hat zuletzt den elsässischen Verein FC Metz trainiert. In Budapest besucht er regelmäßig seine Mutter, die unlängst hundert Jahre alt geworden ist und dort mit seinem Bruder wohnt. Bölöni besitzt ein schickes Appartement in der ungarischen Hauptstadt mit einem schönen Ausblick.
Auch in meiner Familie gab es Beziehungen zu Budapest. Oma und Mutter hüteten ein altes Schwarzweißfoto wie ihren Augapfel. Darauf ist das Budapester Philharmonische Orchester zu sehen, das älteste Orchester Ungarns. "Omas Cousin Hans Bauer hat darin gespielt", erzählte Mutter voller Stolz. Leider wusste sie nur wenig über Bauers Leben. Er war verheiratet und kinderlos. Wie er zu den Philharmonikern gelangt ist und wo er Kontrabass spielen gelernt hat, war ihr nicht bekannt. Das prickelnde Thema reizte mich, erst recht als Journalist. Ein banatschwäbischer Junge, der aus einem kleinen Heidedorf auszog, um die große Musikwelt zu erobern - das ist der Stoff, aus dem Traumgeschichten sind.
Ich begann zu recherchieren und fand heraus, dass Bauer am 3. Februar 1887 im Haus mit der Nummer 175 in Großjetscha geboren wurde. Von der renommierten Musikologin Anna Laskai vom Archiv für Ungarische Musik des 20. und 21. Jahrhunderts am Forschungszentrum des Instituts für Musikwissenschaften in Budapest erfuhr ich weitere interessante Details: "Das Foto stammt aus dem Jahr 1928 und wurde höchstwahrscheinlich nicht in Budapest aufgenommen, sondern auf einer der damaligen Auslandsreisen der Philharmonischen Gesellschaft. Sicher ist, dass János Bauer zwischen 1919 und 1945 Mitglied des Orchesters war und in dieser Zeit auch im Orchester des Opernhauses spielte." Nach seinem Tod riss die Verbindung zu meiner Familie ab. Laskai hat die Ausstellung anlässlich des 170-jährigen Jubiläums der Philharmonischen Gesellschaft im Musikhistorischen Museum des Instituts für Musikwissenschaften organisiert. Standort des zu dieser Gesellschaft gehörenden Ensembles war bereits zu Bauers Zeiten die Ungarische Staatsoper, in der er mit ihm in 26 Jahren oft aufgetreten ist.
Endlich stehen wir vor dem dreistöckigen Gebäude mit einer der besten Akustiken Europas. Die Oper wurde vor 140 Jahren eingeweiht und über vier Jahre bis März 2022 renoviert. Nach dem Eintreten kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Neorenaissance-Architektur und die vielen barocken Dekorationen sind ein Augenschmaus. Als ich die glanzvolle Pracht der mit einem roten Teppich versehenen aufsteigenden Doppel-Haupttreppe sowie der prunkvollen Marmorsäulen sehe und mir vorstelle, wie einst ein armer Schlucker aus Großjetscha als Musiker diesen Weg gegangen ist, läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken. Ein fast hundertjähriges Familienfoto und seine faszinierende Geschichte - ich bin froh, wenigstens einen Bruchteil davon recherchiert haben zu können. Oma und Mutter freuen sich bestimmt im Himmel.
Bauer ist nicht die einzige Verbindung der Oper zum Banat. Erbaut wurde sie nach den Plänen des donauschwäbischen Architekten Nikolaus Ybl, der in Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) als Nikolaus Eibl geboren wurde. Ybl, war da nicht noch was? Klar. Das 1870 fertiggestellte, groß angelegte Schloss Csitó der Grafenfamilie Csekonics, das zwei Kilometer südlich des Banater Heidestädtchens Hatzfeld an der Straße in Richtung Zerne lag, wurde nach den Plänen Ybls errichtet. Ebenso arbeitete er den ersten Stadtbauplan Temeswars aus, durch den die Innere Stadt zum Zentrum wurde, das durch breite Straßen mit der Josefstadt und Fabrikstadt verbunden wurde. Und die Temeswarer Milleniumskirche entstand nach den Plänen Ludwigs von Ybl, dem Enkel von Nikolaus. Sie ist die größte katholische Kirche der Begastadt, in deren Süden es eine Luwig-von-Ybl-Straße gibt.
Auf der märchenhaften Fischerbastei mit der spiralförmigen Struktur ihrer sieben Türme, von denen jeder einem der sieben Magyarenstämme gewidmet ist, die sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Ungarn niedergelassen haben, genießen wir bei einem erfrischenden bittersüßen Aperol Spritz den einzigartigen Ausblick auf Budapest. Die Hauptstadt liegt verträumt zu unseren Füßen. Wie ein glitzerndes Band schlängelt sich die Donau unter den Brücken hindurch, vorbei am prachtvollen Parlament. Wir sind dem azurblauen Himmel ein Stück näher, haben Kaiserwetter und eine atemberaubende Aussicht. "Die schönsten Momente im Leben sind nicht die, in denen man atmet, sondern die, die einem den Atem rauben", schrieb Rainer Maria Rilke. Wie Recht der böhmisch-österreichische Dichter hat. So muss sich die Leichtigkeit des Seins anfühlen.
In der nahen Matthiaskirche spüren wir das Flair der Donaumonarchie. Hier fand 1867 infolge des Österreichisch-Ungarischen Ausgleichs zu den Klängen der Krönungsmesse von Franz Liszt die Krönungszeremonie von Kaiser Franz Josef I. und seiner Ehefrau Elisabeth, genannt Sisi, mit der Stephanskrone zum ungarischen Königspaar statt. Durch den Ausgleich erhielten die Ungarn mehr Eigenständigkeit, die sie ausnutzten, um andere Völker durch ihre aggressive Magyarisierungspolitik dem ungarischen Nationalismus auszuliefern. Die negativen Folgen bekamen auch die Banater Schwaben im Königreich Ungarn zu spüren. Das Ungarische wurde als Amtssprache eingeführt, anderssprachige Kultureinrichtungen und Schulen geschlossen. Daran denke ich, als wir in der Krönungskirche die aus mehrfarbigen geometrischen und pflanzlichen Elementen bestehenden ornamentalen Malereien bewundern, ebenso den neugotischen Hochaltar, geschmückt mit reichlich dunklem Gold sowie die bunten Farbfenster. Das Gotteshaus wird jährlich von einer Million Besuchern besichtigt.
Von der Matthiaskirche sind es nur wenige Schritte bis zur altehrwürdigen Konditorei Ruszwurm. In ihrem wohligen Inneren sorgt das originale Biedermeiermobiliar von 1824 für eine museale Atmosphäre. Die frühere Konditorei-Besitzerin überreichte Königin Sisi anlässlich der Zeremonie persönlich die Krönungstrommel und Zuckerblumen aus Kuchen. Wir freuen uns besonders auf leckere Pogatschen. Doch sie sind nicht aus Grammeln, sondern Kartoffeln und schmecken längst nicht so gut wie bei Oma daheim im Banat. Das stellen wir auch im traditionsreichen Kaffeehaus Gerbeaud fest, das den Wiener Kaffeehäusern in nichts nachsteht und in dem die Pogatschen aus Käse sind.
Beim Spaziergang durchs romantische und reizvoll verschachtelte Burgviertel erklingt auf einmal Trommelwirbel. Wir folgen ihm und erreichen das Sándor-Palais, Amtssitz des ungarischen Staatspräsidenten. Vor dem klassizistischen Gebäude, das zu den schönsten Bauwerken Ungarns gehört, findet gerade die Wachablösung statt. Als ich die strammen ungarischen Soldaten in historischen Uniformen mit geschulterten Gewehren sehe, habe ich das über hundert Jahre alte Soldatenfoto meines Großvaters vor Augen. Er wurde als 18-Jähriger in die k.u.k Armee zum Infanterieregiment "Ritter von Frank" Nr. 61 in Temeswar eingezogen und nahm vier Jahre lang am Ersten Weltkrieg teil. Als Kind lauschte ich gebannt seinen Erzählungen und denen seiner Kameraden beim Hüten der Kühe auf der Hutweide hinter dem Alten Friedhof in Großjetscha. Wie abenteuerlich es klang, als sie von den dramatischen Kämpfen in Galizien und an der Piave erzählten oder als Opa schilderte, wie er einem Landsmann aus Sackelhausen das Leben rettete, wodurch sie beste Freunde geworden sind. Das Foto zeigt ihn mit vier Medaillen und Orden an der linken Brust, darunter die Tapferkeitsmedaille am Dreiecksband. Als Zugsführer war er stellvertretender Kommandant eines Zuges, und bei Abwesenheit des Subalternoffiziers (Leutnant, Oberleutnant) führte er den Zug. Schade, dass Großvater schon seit fünfzig Jahren tot ist. Ich hätte ihn noch so viel zu fragen.
Eine Entdeckung habe ich in Budapest gemacht: Es gibt eine Banat-Straße. Auf dem Weg dorthin flanieren wir durch die lebendige Bartok-Straße, die Lieblingsstraße der Budapester. Sie ist von Bäumen gesäumt, gespickt mit zahlreichen Bohème-Cafés, Bars sowie Kunstgalerien und wurde nach Béla Bartók benannt. Der weltberühmte Komponist und Pianist erblickte im Banater Städtchen Großsanktnikolaus das Licht der Welt. Er lebte und arbeitete lange Zeit in Budapest, wo sich auch sein Grab befindet. In der Hauptstadt gibt es ein Béla-Bartók-Gedenkhaus, die Nationale Béla-Bartók-Konzerthalle, das Béla-Restaurant. Dann erreichen wir die Bánát utca. Eine unscheinbare Straße im XI. Bezirk, 380 Meter lang. Warum gibt es eine Banat-Straße in Budapest? "Sie erhielt ihren Namen von der Gegend Bánát (Bánság), dem Gebiet der Komitate Temes, Torontál, Krassó und Szörény im historischen Ungarn", informiert uns Dobos Krisztina, Chefprokuristin des Budapester Bürgermeisteramtes.
Es ist eine der letzten Straßen, auf der wir durch Budapest spazieren. Aber wir haben noch lange nicht genug von der glitzernden "Perle an der Donau". Obwohl wir täglich im Schnitt zwanzig Kilometer zu Fuß kreuz und quer in der Hauptstadt auf zahlreichen Banater Spuren unterwegs waren und so viel wie möglich aufgesaugt haben. Wie gut, dass es einen tröstenden Spruch zum wehmütigen Abschied gibt: "Monde und Jahre vergehen, aber ein schöner Moment leuchtet das Leben hindurch", so der österreichische Schriftsteller Franz Grillparzer. Unsere hier erlebten Momente und bekommenen Eindrücke werden noch lange leuchten. Viszontlátásra, Budapest!
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