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Großjetschaer Musiker Franz Bettendorf in der BRAVO! Ein abenteuerliches Leben wie im Film mit dem Schicksal als Regisseur

  • Autorenbild: Helmut Heimann
    Helmut Heimann
  • 31. Juli
  • 14 Min. Lesezeit

Blasmusik hat eine lange Tradition im Banat. In meinem Geburtsort Großjetscha soll es bereits 1850 eine Blaskapelle gegeben haben. Als offizielles Gründungsdatum der Blasmusiktradition im einst schmucken Heidedorf gilt der 11. Oktober 1868. „Dieses Datum ist zwar nicht die Geburtsstunde, jedoch die Geburtsurkunde der ersten Blaskapelle des Dorfes. Im Vertrag heißt es nämlich, dass Jungen aus dem Ort bereits seit drei Jahren ausgebildet werden. Vom 11. Oktober an aber waren sie eine offizielle Capelle“. Das schrieb ich am 4. Oktober 1978 im Neuen Weg. Dann war ich zwanzig Jahre alt, frischgebackener Philologiestudent und seit einem Jahr Volkskorrespondent der deutschsprachigen Zentralzeitung aus Bukarest. Der zweite Teil meines Berichtes erschien am nächsten Tag (siehe Faksimiles). Damals vor 110 Jahren wurde der „Donauschwäbische Kapellmeistervertrag“ zwischen dem musikalischen Leiter Bernat Metzger und 17 Eltern abgeschlossen, der die Ausbildung ihrer Söhne geregelt hat.


Erster Teil meines Berichtes 1978 im Neuen Weg über die Geschichte der Blasmusik in Großjetscha.
Erster Teil meines Berichtes 1978 im Neuen Weg über die Geschichte der Blasmusik in Großjetscha.

Der Anfang war gemacht, und während der Jahrzehnte entstanden zahlreiche Kapellen, die im Dorf eine schöne sowie langjährige Blasmusiktradition gehegt und gepflegt haben. Einige Orchester traten bei Gastspielreisen durch England, Frankreich, Dänemark, Holland, Schweden, Norwegen, Österreich, Ungarn und Deutschland auf. Kapellmeister wie Bernhard Orth, Nikolaus Wikete und Josef Hellmann sen. taten sich als Komponisten hervor. Während all der Jahrzehnte existierten in Großjetscha mehrere Kapellen gleichzeitig. Noch in den 1960-er und 1970-er Jahren musizierten vier Orchester im Ort. Das war nicht überall im Banat so, meistens gab es eine oder zwei Kapellen wie in Jahrmarkt.


Franzi Bettendorf (zweite Reihe, erster von links) mit dem Akkordeonorchester von Kapellmeister Josef Hellmann sen. Foto: Archiv Franz Christmann
Franzi Bettendorf (zweite Reihe, erster von links) mit dem Akkordeonorchester von Kapellmeister Josef Hellmann sen. Foto: Archiv Franz Christmann

1978 wurde das letzte große musikalische Fest in Großjetscha unter dem Motto „110 Jahre Blasmusik“ gefeiert. Ich war beim Militär, habe vom bunten und reichhaltigen Programm durch meine Eltern und während der Recherchen von Landsmann Hans Götter erfahren. Alles, was im Dorf musikalischen Rang und Namen hatte, nahm daran teil. Gleich fünf Musikformationen spielten auf: jene unter Leitung von Johann Fuhr, Franz Beisser, Hans Griffaton, Josef Mehr sowie Josef Blum. Der Publikumszuspruch war riesig.

Meine Eltern erzählten mir, dass unser Nachbar Anton Seiler aufgetreten ist, obwohl er in keiner Kapelle mitgemacht hat. Toni war ein hochbegabter Friseur und hervorragender Gesangsinterpret. Beim Festprogramm sang er mit großem Erfolg Hits wie „Die kleine Kneipe“, „Ich bau' Dir ein Schloß“ sowie „Mein Name ist Hase.“ Letzteres Lied traf ganz besonders auf ihn zu, denn sein Spitzname lautete „Hase“. Gerne erinnere ich mich an die gemeinsamen Stunden des Musizierens mit Toni, als wir mit unseren Hohner-Akkordeons Schlager wie „Mendocino“ oder „Butterfly“ spielten und sangen - nicht nach Noten, sondern nach Gehör. Was Kapellmeister Franz Josef Beisser zu Ohren kam, weswegen er uns rüffelte. Jedes Mal, wenn die erwähnten Lieder im Radio erklingen, muss ich an Toni denken. Er lebt schon lange nicht mehr.


Zweiter Teil meines Berichtes 1978 im Neuen Weg über die Geschichte der Blasmusik in Großjetscha.
Zweiter Teil meines Berichtes 1978 im Neuen Weg über die Geschichte der Blasmusik in Großjetscha.

Vergangen und vorbei ist auch die erfolgreiche Großjetschaer Musiktradition, die mit Johann Bauer einen ersten Philharmoniker hervorgebracht hat, der ab 1919 am Kontrabass insgesamt 26 Jahre lang mit dem Orchester der Philharmonischen Gesellschaft Budapest erfolgreich im In- und Ausland aufgetreten ist (siehe meinen Blogbeitrag vom 10. November 2024 „Streifzug durch Budapest: Auf Banater Spuren von Fußballer Puskás, Philharmoniker Bauer, Architekt Ybl“). Ebenfalls in Budapest leitete Josef Pulyer 1897 die Eisenbahnerkapelle. Nikolaus Wikete war zwischenzeitlich Klarinettist in der Hermannstädter Philharmonie, Trompeter Aurel Manciu (von 1972 bis 1981) sowie Posaunist Dumitru Gârz (1973 - 1995) in der Temeswarer Philharmonie Banatul, Klarinettist Richard Beisser (1974 - 1981) bei der Temeswarer Nationaloper. Franz Christmann (Tuba, Bassgitarre) leitete von 1971 bis 1973 das aus Funk und Fernsehen bekannte Banater Studentenquintett, das mit Oberkrainermusik sowie Schlagern sehr beliebt war und am 8. Januar 1972 in Großjetscha aufgetreten ist. Obwohl ich damals 13 Jahre jung war, kann ich mich gut an die Vorstellung erinnern. Alle erwähnten Berufsmusiker hatten in dieser Gemeinde ihren ersten Musikunterricht erhalten. Doch die Auswanderung nach Deutschland setzte der Blasmusiktradition in Großjetscha ein Ende, sodass nur noch die Erinnerung an dieses außergewöhnliche musikalische Dorf mit seinen knapp 3.000 Einwohnern geblieben ist.


Von der Burg Leopoldsberg hat man einen tollen Ausblick auf Wien. Fotos: Helmut Heimann/Collage: Hans Vastag
Von der Burg Leopoldsberg hat man einen tollen Ausblick auf Wien. Fotos: Helmut Heimann/Collage: Hans Vastag

Bei so vielen Kapellen gab es dementsprechend viele Musikanten. Zu den talentiertesten, die Großjetscha auf dem Gebiet der Unterhaltungsmusik je hatte, gehörte Franz Bettendorf. Der vielseitigste war er auf jeden Fall. Er wäre am 16. August 80 Jahre alt geworden, weshalb ich seiner gedenke und ihn als vielversprechenden Musiker würdige, der eine steile Karriere in Deutschland vor sich hatte.

Die Trompete war das Lieblingsinstrument von Franz Bettendorf. Foto: privat
Die Trompete war das Lieblingsinstrument von Franz Bettendorf. Foto: privat


Franzi, wie wir ihn nannten, kam als zweites Kind seiner Eltern Franz und Angela Bettendorf (geb. Christ) in Großjetscha zur Welt. Das musikalische Talent wurde ihm in die Wiege gelegt. Beim gestrengen Kapellmeister Josef Hellmann sen. erhielt der Rohdiamant den Feinschliff, lernte Akkordeon, Saxophon und Trompete spielen. Die Beziehungen zwischen den Familien Bettendorf und Hellmann waren bestens, die Ehefrau des Kapellmeisters Magdalena wurde Franzis Taufpatin. Er machte rasch Fortschritte, und später zog es ihn nach Temeswar. Da er dreizehn Jahre älter war als ich, kann ich mich so gut wie nicht an ihn erinnern. Er kam meistens an den Wochenenden heim. Alles, was ich über ihn weiß, habe ich von meinen Eltern erfahren. Sie hatten sich durch seine Großmutter Barbara Christ kennengelernt. Die Freundschaft zwischen unseren Familien war eng. Wir wohnten in derselben Straße, vier Häuser voneinander getrennt. Mein Vater wurde Franzis Firmpate.

Der Jungmusiker Bettendorf hatte schon früh seinen eigenen Kopf. Er war ein Feingeist und Freigeist, der sich über persönliche sowie liberale Werte identifiziert und ausgedrückt hat. Dabei kam es vor, dass er ungewöhnliche Dinge für eine konservative Dorfgemeinschaft tat und mit seinem BMW-Motorrad auf einem von seiner Oma über die Treppen gelegtem Brett in die gute Stube fuhr. Im bürgerlichen Großjetscha wurde so etwas nicht goutiert. Hier galten andere Regeln. Man wurde als Sonderling abgestempelt und vorschnell in eine Schublade gesteckt. So war es auch bei Franzi. Egal, wen ich bei meinen Recherchen nach ihm gefragt habe, die Antwort war immer die gleiche: „Der mit dem Motorrad ins Zimmer fuhr.“


In diesen BRAVO-Ausgaben wurde über den Unfall der River Boys geschrieben.
In diesen BRAVO-Ausgaben wurde über den Unfall der River Boys geschrieben.

Dabei war er ein feiner, höflicher, schweigsamer, zuvorkommender Jugendlicher. Meine Eltern haben seine guten Manieren öfter erwähnt: „Als Einziger zog er seine Schuhe auf dem Hausflur aus, bevor er ins Zimmer trat.“ Sein Klassenkamerad Josef Götter kann sich gut an ihn erinnern: „Ein lustiger Kerl. Wir waren neun Jungs, von denen nur ich noch lebe.“ Auch Josef hat in Großjetscha musiziert. Franzis ehemalige Nachbarin Maria Griffaton sagt über ihn: „Ein hübscher Junge, der an Kirchweihfesten teilgenommen hat.“

Die Enge des Dorfes hielt Franzi aber nicht lange aus. Er wollte hinaus in die große, weite Welt und dort sein Glück versuchen. So reifte in ihm der Entschluss, Rumänien zu verlassen und nach Deutschland zu flüchten. Er heckte einen raffinierten Plan aus. Gegen Bestechung gelangte er im Sommer 1965 zusammen mit einem Temeswarer Landsmann in einen Güterwaggon, mit dem Tomaten in den Westen exportiert wurden. Sie trugen Badehosen, entleerten einige Kisten, zerstampften und zerquetschten die Früchte, rieben sich mit ihnen ein, für alle Fälle zusätzlich mit Maschinenöl, damit sie nicht von den Grenzer- und Zollhunden erschnüffelt werden konnten. Die Fahrt dauerte statt der geplanten zwei Tage doppelt so lange und war alles andere als angenehm. Etwas Wasser hatten sie dabei, ernährten sich von Tomaten, verrichteten ihre Notdurft im Waggon, die Füße schwollen vom tagelangen Stehen stark an. Endlich wurden die Türen geöffnet. Sie waren in Österreich angekommen - in der langersehnten Freiheit!

Erster Teil des BRAVO-Berichtes über den Tod der beliebten Musikgruppe in großer Aufmachung.
Erster Teil des BRAVO-Berichtes über den Tod der beliebten Musikgruppe in großer Aufmachung.

Die Entfernung auf dem Feldweg von Großjetscha bis zur serbischen Grenze bei Clarii Vii beträgt circa sechs Kilometer. Fluchtversuche gab es im kommunistischen Rumänien viele und vielfältige. Aber von solch einem abenteuerlichen hatten wir bis dahin und auch nachher nicht mehr gehört. Was war das für ein Hallo und mediales Aufsehen, als zwei ungepflegte, bärtige, halbnackte Männer in Wien aus dem Waggon kletterten. Die Flüchtlinge hatten es geschafft, der Diktatur ein Schnippchen zu schlagen. Zeitungen, Fernsehen, Radio überboten sich mit Schlagzeilen. Die beiden Banater Schwaben waren über Nacht zu Medienstars im Alpenland geworden. Wegen ihrer stark dehydrierten Körper mussten sie für einige Tage ins Krankenhaus.

Wir erfuhren von Franzis Flucht, als meine Eltern von ihm eine Ansichtskarte aus Wien mit ein paar Zeilen und vielen Grüßen erhielten. Sie zeigte ein wunderschönes Motiv: die Burg Leopoldsberg auf dem gleichnamigen 425 Meter hohen Gipfel des nordöstlichsten Ausläufers des Wienerwaldes im 19. Wiener Gemeindebezirk Döbling. Ich habe die Ansichtskarte immer noch vor Augen. Meinen Eltern gefiel sie so gut, dass sie sie einrahmen ließen und aufhängten. Als Gerti und ich vor knapp zwei Monaten Wien besucht haben, war es selbstverständlich, dass wir auf den Leopoldsberg wanderten. Von dort genossen wir bei herrlichem Wetter das wunderbare Panorama der österreichischen Hauptstadt, durch die sich die Donau wie ein glitzerndes Band schlängelte. Dabei musste ich unwillkürlich an Franzi denken, obwohl schon so lange Zeit seit seiner spektakulären Flucht vergangen ist.

Mein Jugendzimmer in Großjetscha war voll mit Postern aus der BRAVO. Foto: Karl Szélhégyi-Windberger
Mein Jugendzimmer in Großjetscha war voll mit Postern aus der BRAVO. Foto: Karl Szélhégyi-Windberger

Er war zwar im Westen angekommen, aber noch nicht am Ziel seiner Wünsche. Franzi wollte weiter nach Deutschland, was auf den ersten Blick leichter schien als die Flucht von Rumänien nach Österreich. Aber er hatte keine Aufenthaltsgenehmigung, überquerte im Winter illegal die Alpen bei Schnee und Eis und kam halb erfroren in Deutschland an. Seine zweite schwierige Flucht innerhalb kurzer Zeit. Über die verschneiten Alpen das Weite suchen, war kein leichtes Unterfangen. Aber auch das gelang ihm.

Endlich war Franzi in Deutschland. Zunächst lebte er ein Jahr in Stuttgart, dann zog er ins bayerische Schwaben, wo er in Nördlingen Unterkunft, privates Glück und Arbeit in einer Autoreifenfirma fand. Es ist der Geburtsort des weltberühmten Torjägers Gerd Müller, von dem jetzt eine Statue dort steht. Franzi kaufte sich einen Wagen, natürlich von BMW - wie früher sein Motorrad in Großjetscha. BMW war neben der Musik sein großes Faible.

In der neuen, fremden Welt musste er sich zunächst zurechtfinden. Er besorgte sich eine Trompete, denn dieses Instrument hatte es ihm besonders angetan und eine Hammond-Orgel. Mein Vater bekam die Besuchserlaubnis und reiste im November 1969 für einen Monat nach Deutschland. Dort besuchte er auch sein Firmkind. Franzi zeigte ihm stolz seine Instrumente, spielte voller Hingabe darauf und ließ meinen Vater an die Orgel, obwohl der nichts damit anfangen konnte. Ein bisschen Spaß musste sein.

Franzi wurde auf eine 1967 gegründete Band aufmerksam. Der Sologitarrist war 19 Jahre alt, der Saxophonist 17, der Trompeter und Bassgitarrist 19, der Schlagzeuger 22. Mit 24 war Franzi der Älteste. Die Gruppe nannte sich River Boys, spielte in Nördlingen und den umliegenden Ortschaften Kirchheim am Ries, Wallerstein, Dinkelsbühl oder Donauwörth. Überall, wo die River Boys auftraten, stellten sie Saalrekorde auf. Keine andere Band konnte ihnen das Wasser reichen. Ihr Repertoire war breitgefächert und bestand aus hartem Beat, sanften Walzern, romantischen Schlagern. Der vielfältige, packende Musik-Mix begeisterte die Menschen. Die River Boys probten jeden Tag, beherrschten hundert Nummern aus dem Stand.

Kaum war Franzi Anfang März 1970 zur Gruppe gestoßen, wurde er auf Anhieb als deren Leader akzeptiert. Das sagte viel über seine musikalischen Qualitäten aus. Außer Trompete, Akkordeon, Saxophon und elektronischer Orgel beherrschte er weitere drei Instrumente. Er ließ lieber diese sprechen, redete nicht viel. Und alles lief wie am Schnürchen: volle Säle, gute Stimmung, tolle Musik, begeisterte Fans, die der Band überallhin folgten. Ein Plattenvertrag winkte!

Franz Bettendorf hätte der erste banatschwäbische Unterhaltungsmusiker mit einer Schallplatte in der Bundesrepublik Deutschland werden können. Wenn nicht das Schicksal erbarmungslos zugeschlagen hätte. Bei einem Autounfall wurde fast die komplette Besetzung der River Boys in Sekundenschnelle ausgelöscht. Angesichts des riesigen Potenzials, das in der Gruppe steckte, berichtete die berühmte Jugendzeitschrift BRAVO groß aufgemacht in zwei Ausgaben über sie. „Tod einer Beatband“ schlagzeilte die Bibel für Schlager, Rock, Pop, Filme. Es war die Glanzzeit von BRAVO und ihren Storys über die goldenen Jahre des deutschen Schlagers mit Stars wie Roy Black, Rex Gildo, Heino, Udo Jürgens, Drafi Deutscher, Vicky Leandros, Bata Illic, Costa Cordalis, Peter Alexander, Chris Roberts, Christian Anders, Tony Marshall, Wencke Myhre, Michael Holm oder Cindy & Bert sowie den gefragten Sex- und Beziehungstipps von Dr. Sommer. Die Jugend war verrückt nach der Zeitschrift, kaufte sie wie warme Semmeln. Kein Wunder, dass das Blatt eine Auflage von sage und schreibe 1,2 Millionen Exemplaren hatte. 

Als mein Vater vom Besuch aus Deutschland heimkehrte, hatte er fünfzig BRAVO-Ausgaben im GepäckMeine Cousins in Salzgitter waren begeisterte Leser. Ich wundere mich bis heute, wie Vater das viele Gepäck im Zug aus Deutschland über Österreich und Ungarn nach Rumänien mitbringen konnte. Er war 42 Jahre alt und kräftig. Trotzdem musste er mehrmals die Bahnhöfe mit all den Koffern und Taschen wechseln, darin Lebensmittel, Kleidungsstücke, ein Fußball, Schlittschuhe, die erwähnten Zeitschriften sowie ein Akkordeon mit 96 Bässen von Hohner, auf dem ich in Großjetscha spielen lernte.

Vater hatte es letztendlich geschafft und mir eine Riesenfreude bereitet. Ich war elf Jahre alt, konnte mein Glück kaum fassen. Die BRAVO-Zeitschriften verschlang ich regelrecht. Anschließend wurden die Hefte ausgeschlachtet. Die Poster hängte und klebte ich in meinem Jugendzimmer auf Wände, Schränke, Kästen, Türen. Alles war voll damit, kein Zentimeter mehr frei. Was für Zeiten. Zum Vergleich: Heute beträgt die Auflage von BRAVO nicht mal mehr 50.000 Exemplare. Früher erschien sie jede Woche, jetzt nur noch einmal im Monat. Auch ihre Erfolgsgeschichte ist längst vorbei.

Franzi Bettendorf an seiner geliebten Hammond-Orgel.
Franzi Bettendorf an seiner geliebten Hammond-Orgel.

Die Berichte über die River Boys wurden am 4. und 11. Mai 1970 in der BRAVO veröffentlicht. Darin hieß es: „Sie starben in der Nacht zum Osterdienstag. Sie spielten in der letzten Nacht alle Nummern aus der BRAVO-MUSICBOX. Das Publikum tobte sich aus, fuhr müde nach Hause. Die Band fuhr in den Tod.“ Von den fünf Musikern starben drei, einer kam mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus - und einer überlebte, weil er nicht im Unfallwagen saß, da er zur Arbeit in einer Buchdruckerei musste.

Der überlebende Schlagzeuger Georg Rommel erzählte in der BRAVO über die Unglücksnacht: „Wir sollten um halb acht Uhr abends loslegen. Wir waren mit unseren Wagen und sämtlichen Instrumenten pünktlich in Kirchheim am Ries im Ostalbkreis. Es war eine gute Stimmung - eigentlich die beste, die wir seit langem gehabt hatten. Denn Franz Bettendorf war erst seit vier Wochen bei uns und spielte die Orgel so verrückt gut, dass wir alle mitgerissen wurden. Als wir anfingen, war der Saal voll. Wir fingen an mit einem Stück ohne Namen. Es erinnert ein bisschen an den ´St.-Louis-Blues´, und schon tobte alles unten im Saal. Dann sang Wolfgang Winkler ´Barfuß im Regen´. Es war eine gute Sache, und wir mussten sie wiederholen. Ich dachte, so gut ist es noch nie gelaufen. Und ich dachte auch: Mit dieser Besetzung schaffen wir die erste Platte. 250 Leute waren an diesem Abend da, und sie machten einen Heidenlärm. Jede Nummer schlug ein, jeder Hit war eine Wucht. Rechts neben der Bühne saßen rund fünfzig Spanier. Die waren immer da, ganz gleich, wo wir spielten. Und es waren feine Kerle mit ganz duften Mädchen. Sie wünschten sich immer dieselben Stücke: ´Weine nicht kleine Eva´, ´Come on, let's go´, ´Let's dance´ sowie ´Substitute´. Wir spielten alle viermal runter, und jedesmal wurden wir besser. Genau um Mitternacht war Schluss. Wir spielten das Stück, das wir immer zuletzt spielten: ´Good night, my love´, aber die unten auf dem Parkett gaben keine Ruhe und wollten weitermachen, weitertanzen. Da sagte Franz Bettendorf: Also schön. Geben wir denen noch ´Il Silenzio´ drauf. Und wir spielten das. Bettendorf wechselte von der Orgel auf die Trompete. Es klang nach Abschied, und es wurde ein Abschied für immer.“

Der Unfall geschah am 31. März 1970. Rommel in der BRAVO: „Wir fuhren nach unserem Auftritt mit allen Wagen in einen Gasthof nach Wallerstein, zehn Kilometer entfernt. Dort gibt es eine Schlosswirtschaft, wo am Wochenende auch getanzt wird. Kurz nach eins war ich gegangen, denn ich musste in die Frühschicht in meinen Betrieb. Die vier blieben noch da. Sie saßen in der Küche der Kneipe und tranken wieder Cola und Apfelsaft. Das war das letzte, was ich von ihnen sah.“ Die restlichen Bandmitglieder stiegen kurz nach drei Uhr zusammen in einen Wagen, obwohl jeder sein eigenes Auto vor der Gaststätte geparkt hatte. Sie fuhren Richtung Nördlingen, und rasten mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit in den Tod. Am Steuer des roten BMW 1600 saß Franzi Bettendorf.

Über den Unfall berichtete die Augsburger Allgemeine am 1. April 1970: „Nach Aussagen von Bekannten war Bandleader Franz Bettendorf dafür bekannt, dass er kaum alkoholische Getränke zu sich nahm. So wird auch von der Polizei angenommen, dass der Unfall nicht auf Alkoholeinfluss zurückzuführen ist. Vielmehr könnte die geringe Fahrpraxis Bettendorfs bei dem Unglück eine Rolle gespielt haben. Der 24jährige hatte erst im November vorigen Jahres seinen Führerschein gemacht. Sein verhältnismäßig schnelles Auto war im Februar zugelassen worden und hatte nun 2000 Kilometer auf dem Tachometer stehen.“ BMW war Franzis Passion - und wurde ihm zum Verhängnis.


Lustig! Mein Vater tat so, als könnte er Orgel spielen. Fotos: privat
Lustig! Mein Vater tat so, als könnte er Orgel spielen. Fotos: privat

Weiter schrieb die Zeitung: „Der Wagen war nach der langgezogenen Linkskurve der B25 am Ortseingang von Baldingen auf den rechten Gehsteig geraten und gegen einen dort abgestellten Bagger geprallt. Der Personenwagen war durch die Wucht des Aufpralls teilweise unter den Bagger geschoben worden und hatte das schwere Gerät um 30 Zentimeter verrückt. Die Polizei schließt daraus, dass das Auto mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit in die Kurve gesteuert wurde. Der Fahrer hat vermutlich nicht mehr auf das auftauchende Hindernis reagieren können. Bremsspuren wurden nicht festgestellt. ´So etwas habe ich noch nicht gesehen´, sagte ein Polizeibeamter, der zu dem bisher schwersten Unfall im Landkreis Nördlingen gerufen worden war.“ Eine unbeschreibliche Tragödie mit drei Toten auf der Stelle, einem Schwerverletzten und vielen Fragen: Warum sind die Musiker in Franzis Wagen gestiegen und ließen ihre Autos stehen? Wieso war der schwere Bagger in Nähe einer Kurve am Gehsteig abgestellt worden? Weshalb fuhr Franzi am Ortseingang so schnell? Sie blieben unbeantwortet.


Die Platte von Heintje erschien 1968.
Die Platte von Heintje erschien 1968.

Als Vater Franzi besuchte, war die Welt noch in Ordnung. Sie verbrachten einige schöne Tage. Schließlich war mein Vater der Erste aus Franzis familiärem Umfeld, mit dem er nach seiner Flucht in den Westen reden konnte. Und leider sollte er auch der Letzte sein. Vier Monate nach dem Besuch geschah der schreckliche Unfall. Franzi schenkte Vater zum Abschied eine Schallplatte mit Liedern von Heintje. Der war damals ein Superstar in Deutschland. Die Songs auf der Single sind „Ich bau' Dir ein Schloß“ und „Du sollst nicht weinen“. Nicht lange danach stellte sich heraus, dass sie symbolisch waren. Franzi hätte sich ein musikalisches Schloss bauen können. „Er war der Schweigsamste von uns gewesen, aber er hatte am meisten von Musik verstanden. Er war der beste Organist, den wir finden konnten. Besonders die Trompete hatte es ihm angetan. Wenn er ´Stranger in the night´ blies, konnte es passieren, dass die Leute aufhörten zu tanzen, um ihm zuzuhören“, so Georg Rommel in der BRAVO. Für seine über alles geliebte Großmutter schickte Franzi ebenfalls eine Platte von Heintje mit, darauf der Hit „Oma so lieb“.

Du sollst nicht weinen - das war zu Franzis Lebzeit nicht mal von ihm einzuhalten. Als sich der Zug im Nördlinger Bahnhof in Bewegung setzte, blieb er so lange auf dem Bahnsteig stehen, bis der Waggon mit meinem Vater aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er hielt ein weißes Taschentuch in der Hand. Und winkte, und winkte, und winkte, und Tränen kullerten über sein Gesicht. Ob er wohl geahnt hat, dass es ein Abschied für immer werden würde? Du sollst nicht weinen - das konnte auch seine Mutter nicht. Sie hatte bis zu ihrem Tod im hohen Alter den frühen und tragischen Verlust ihres Sohnes nicht überwunden. Die Platte mit „Du sollst nicht weinen“ ist 57 Jahre alt. Wir haben sie über all die Jahrzehnte aufbewahrt, und brachten sie bei der Auswanderung nach Deutschland mit. Als meine Eltern verstarben, verblieb sie bei mir. Für mich hat die Schallplatte keinen materiellen, dafür aber umso mehr einen ideellen Wert. Erinnert sie mich doch an den hochtalentierten Musiker Franz Bettendorf.

 Mein Vater und ich vor 30 Jahren am Grabe von Franz Bettendorf in Wallerstein. Foto: Michael Klug
Mein Vater und ich vor 30 Jahren am Grabe von Franz Bettendorf in Wallerstein. Foto: Michael Klug

Er hätte so viel in seinem Leben erreichen können, wenn dieser schlimme Unfall vor 55 Jahren nicht passiert wäre. Zuerst riskierte er sein Leben auf der Flucht in den Westen, dann verlor er es in der vielgeliebten Freiheit am Steuer eines schnellen Wagens. Es war ein abenteuerliches Leben wie im Film, in dem das Schicksal Regie führte. Obwohl Franzi seit fünfeinhalb Jahrzehnten tot ist, wird er in der Erinnerung weiterleben. Ein Zitat drückt das treffend aus. Es stammt aus dem Trauerspiel „Der Stern von Sevilla“ nach dem gleichnamigen Schauspiel des spanischen Dichters Lope de Vega, bearbeitet vom österreichischen Schriftsteller Joseph Christian Freiherr von Zedlitz, wird aber seit Jahrzehnten dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant untergeschoben: „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird.“ In diesem Sinne habe ich den Beitrag geschrieben.

Im Andenken an Franz Bettendorf kann jetzt die Abschiedsmelodie „Il Silenzio“ des italienischen Trompeters Nini Rosso aus dem Jahr 1965 angehört werden, die mit zehn Millionen Tonträgern weltweit zu den meisterverkauften Instrumentalaufnahmen aller Zeiten zählt und die der hoffnungsvolle Großjetschaer Musiker als letztes Lied in seinem jungen Leben gespielt hat. 60 Jahre „Il Silenzio“, 60 Jahre „Die Stille“. Ruhe in Stille und Frieden, Franzi.



Bis zum nächsten Klick auf meinen Blog…


Als neuer Beitrag folgt: Exklusivinterview mit Jahrhundert-Torhüter Sepp Maier über seinen Rekord für die Ewigkeit, das Banat, seine Spiele in Rumänien und Helmut Duckadam

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