Als Gerti und ich einen Strandspaziergang auf den Kapverden machten, unsere Füße vom kristallklaren Wasser des Atlantischen Ozeans umspülen, eine sanfte Brise das Haar streicheln, die Sonnenstrahlen die Haut kitzeln ließen und den Duft der großen weiten Welt einatmeten, fielen mir die Worte des Reisejournalisten Jean Marc-Göttert ein: "Erst, wenn wir die Welt entdecken, uns mit dem Fremden auseinandersetzen, verstehen wir, wer wir sind und wo wir herkommen. Reisen bedeutet Dialog und verbindet Kulturen. Eine unglaubliche Bereicherung und ein Privileg ist es ohnehin, dorthin zu reisen, was man gerade auf dem Globus oder im Katalog entdeckt." Wir schlenderten am Meer entlang und träumten mit offenen Augen. Denn ein Traum geht ein, wenn niemand träumt.
Die drittgrößte kapverdische Insel Boa Vista machte ihrem Namen "Schöne Aussicht" alle Ehre: Der weite Ozean rauschte geheimnisvoll, die weißen Wellen rollten unermüdlich aufs Ufer zu, majestätische Fischadler stürzten sich kopfüber zum Fischfang in die brausende Gischt, während wir unsere Reisepläne besprachen. Dabei erwähnte ich Marseille. Nicht von ungefähr. Die Stadt ist Kreuzfahrthafen, Olympique hat als einzige französische Fußballmannschaft die Champions League gewonnen, der berühmte Schauspieler Fernandel wurde dort geboren, ebenso der nicht minder bekannte Kicker Zinedine Zidane, Marseille hat die meisten Sonnenstunden Europas, ist ehemalige europäische Kulturhauptstadt, die olympischen Segelwettbewerbe finden hier statt und, und, und. Also nichts wie hin, zumal mir Gerti die Reise zum Geburtstag schenkte.
Freunde und Bekannte warnten, als sie von unserem Plan erfuhren. Marseille sei ein gefährliches Pflaster, unsicher, kriminell. Die deutschen Medien stimmten in den vorverurteilenden Chor mit ein: "Drogenkrieg in Marseille eskaliert", vermeldete die Tagesschau. "Gewalt, überall Gewalt", schlagzeilte die Frankfurter Rundschau. "Die Misere von Marseille", berichtete das ZDF. Und der Münchner Merkur setzte allem das i-Tüpfelchen auf: "Die südfranzösische Hafenstadt Marseille belegt den ersten Platz in der Rangliste der gefährlichsten Städte Europas." Ausgerechnet dorthin wollten wir. Warum eigentlich nicht?
Auf unseren Reisen rund um die Welt haben wir schon viele "kriminelle" Warnungen gehört, uns davon aber nicht ins Bockshorn jagen lassen. Egal, ob in Rio de Janeiro, Cancún oder der südafrikanischen Township Soweto bei Johannesburg - überall kamen wir sicher über die Runden, ebenso im Drogenparadies Kolumbien. Dorthin hatten wir eine Gruppenreise mit garantierter Durchführung ab zwei Personen gebucht. Als wir in Bogotá landeten, war keine Gruppe da - und wir zwei allein mit eigenem Fahrer plus Reiseleiter auf Tour. Komfortabel wie bei einer Privatreise.
Wir ignorierten den Spruch von Marseilles bekanntestem Sohn Fernandel. Der nicht nur in Deutschland und Rumänien überaus beliebte Schauspieler meinte: "Der Mut ist wie ein Regenschirm. Wenn man ihn am dringendsten braucht, dann fehlt er einem." Pustekuchen! Wir vermissten ihn nicht. „Der ideale Tag wird nie kommen. Der ideale Tag ist heute, wenn wir ihn dazu machen“, wusste schon der römische Dichter Horaz. Deshalb: Auf geht's nach Marseille!
Als wir am Bahnhof Saint Charles ankommen, staunen wir nicht schlecht. Die Stadt mit dem größten Hafen Frankreichs liegt uns zu Füßen. 104 Treppen führen zu ihr hinunter. Sie sind mit verschiedenen Skulpturen zu den Themen der Kolonien Asiens und Afrikas sowie mit verspielten Leuchten verziert. Ganz oben je ein Kind mit Löwe, in der Mitte Pylone mit barbusigen Frauenskulpturen, auf den Treppenabsätzen Bronzefiguren. Die Sonne lächelt, eine leichte Brise weht vom Meer. Willkommen in Marseille mit seinem rauen, fast wilden Charme.
Es geht auf den von Bäumen gesäumten historischen Boulevard d'Athen, der in die Innenstadt führt. Wir sind auf dem Weg zum Alten Hafen, wo sich unser Hotel befindet. Er ist das geschichtliche und kulturelle Zentrum, das pulsierende Herz der Stadt. Wenn wir aus dem geöffneten Hotelfenster schauen, genießen wir den Anblick der sich dicht aneinander schmiegenden, im Windhauch sanft schaukelnden 3500 Segelboote und Yachten in vollen Zügen, eine schöner und luxuriöser als die andere. So ähnlich erlebten wir es im Port Hercule in Monte Carlo, der Miami Beach Marina, dem Waitemata Harbour in Auckland oder der Marina del Rey in Los Angeles. Zurück nach Marseille. Das azurblaue Meereswasser glitzert im Sonnenschein, die Stimmung ist maritim, das Flair mediterran. Wir atmen die frische kristallklare Luft tief ein. Vive la vie!
Unser erster Weg führt zum Wahrzeichen von Marseille. Die Kirche Notre-Dame de la Garde ist wunderschön und erstrahlt im romanischen-byzantinischen Stil. Errichtet auf einem 160 Meter hohen Felsplateau, bestaunen sie jedes Jahr zwei Millionen Besucher. Auf der Turmspitze thront eine elf Meter hohe Marienstatue mit dem Jesuskind, aus vergoldeter Bronze und zehn Tonnen schwer. Vom Felsplateau haben wir einen atemberaubenden Ausblick aufs glatte Mittelmeer und sehen in der Ferne die Gefängnisinsel Île d'If, deren Festung zum literarischen Mythos wurde. Der Schriftsteller Alexandre Dumas ließ hier den Grafen von Monte Christo in seinem gleichnamigen Roman 14 Jahre unschuldig im Kerker schmoren. Die Silhouette der Notre Dame prägt das Stadtbild und ist von überall wie ein erhobener Zeigefinger zu sehen, der die Menschen herbeiwinkt.
Wir knüpfen uns Tag für Tag die Sehenswürdigkeiten der ältesten französischen Stadt vor. Natürlich ist Fernandel präsent. Nur wenige Meter von der Geburtsstätte entfernt steht seine lächelnde Bronzebüste. Im Haus ist ein Kindergarten untergebracht. Der ikonische Komiker mit dem breiten Grinsen lockte 200 Millionen Zuschauer in die Kinos. Eine Straße trägt seinen Namen.
An den Jahrhundertfußballer Zinedine Zidane erinnert nichts. Vielleicht, weil er im Gegensatz zu Fernandel lebt. Zizou, so sein Spitzname, ist als Sohn algerischer Einwanderer hier geboren. Ausgerechnet die Talentespäher seines Lieblingsvereines Olympique wollten ihn als Jugendlichen nicht. Er sei zu langsam. Mit eisernem Willen und harter Arbeit zeigte er es ihnen und schaffte es bis ganz nach oben: Weltmeister, Europameister, Champions-League-Sieger, Weltpokalgewinner. Legendär sein Kopfstoß im verlorenen WM-Finale gegen den Italiener Materazzi, wofür er vom Platz flog. Marseille ist Zidanes Traumstadt. „Ich bin stolz auf die Gegend, aus der ich stamme, und ich werde nie die Leute vergessen, mit denen ich aufwuchs", so der dreimalige Weltfußballer.
Wer Marseille besucht und sich für Fußball interessiert, muss unbedingt hin, selbst unter der Woche und ohne Spiel. Wir stehen vor dem Stade Vélodrome, mit 67.000 Plätzen das größte Fußballstadion eines französischen Vereines. Die Ränge sind durch eine 280 Meter weit gespannte Gitterschale überdacht. Ein architektonisches Juwel wie die sich in der Nähe befindende Cité Radieuse des weltberühmten Architekten Le Corbusier, ein imposantes Wohngebäude aus Beton mit farblichen Akzenten, das an ein Passagierschiff erinnert und in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Ganz so weit hat es das Vélodrome noch nicht geschafft. Immerhin verlieh ihm der Weltfußballverband das FIFA-Label fünf Sterne. Wir besuchen den daneben liegenden Fanshop und werden mit der imposanten Trophäensammlung von Olympique konfrontiert: neunmal Meister, zehnmal Pokalsieger, einmal Gewinner der Champions League.
So erfolgreich wie die Vergangenheit sieht die Gegenwart der Blau-Weißen nicht aus. Trainer Gennaro Gattuso konnte das Ruder nicht herumreißen. Gattuso, war da nicht mal was? Klaro! Die italienische Dampfwalze machte bei der WM 2006 alle Gegner platt, im Halbfinale Gastgeber Deutschland und im Endspiel Zidanes Franzosen. Schade, dass wir vor dem Wochenende abreisen müssen, sonst hätten wir im Vélodrome das Duell zwischen Gattuso und seinem Kollegen Ladislaus Bölöni gesehen. Der 104-malige rumänische Nationalspieler trainiert den Aufsteiger FC Metz.
Mit Olympique hatte es auch ein ehemaliger Mitspieler Bölönis zu tun bekommen. Miodrag Belodedici ist eine lebende Legende in Rumänien. Der Serbe aus dem Banat, geboren in Sokol im Kreis Karasch-Severin an der Grenze zu Serbien, nahe der Mündung der Nera in die Donau, gewann mit Bölöni für Steaua Bukarest den Europapokal der Landesmeister. Zusammen mit dem banatschwäbischen Torhüter Helmut Duckadam aus Semlak, der im Finale von Sevilla vier Strafstöße im Elfmeterschießen gegen den FC Barcelona hielt. Fünf Jahre später wiederholte Belodedici mit Roter Stern Belgrad den Cupgewinn. Belo, so sein Spitzname, ist der zweite Fußballer, der den begehrtesten europäischen Vereinspokal mit zwei verschiedenen Mannschaften gewonnen hat und in die Fußballgeschichte eingegangen ist.
Als Kind hatte er ein Idol: Franz Beckenbauer. Er wollte wie dieser werden und eiferte ihm nach. Belo schrieb Freunden in Deutschland und bat sie um ein Foto des Kaisers. Sie schickten ihm einen lebensgroßen Starschnitt, den er zusammenklebte und an der Tür seines Jugendzimmers im Banat aufhängte. Es gelang ihm, mit viel Talent und Fleiß zum besten rumänischen Libero zu werden. Eine Position, die auch Beckenbauer bei seinen Mannschaften innehatte. Ihre Spielweisen ähnelten sich wie ein Ei dem anderen: elegant, leichtfüßig, geschmeidig, filigran - eine Augenweide. Die Zeitschrift "Steaua" bezeichnete Belodedici als "Beckenbauer Rumäniens". Nicht von ungefähr lautet sein Spitzname căprioara, das Reh.
Am 08. Dezember 1987 traf ich Belodedici zum bisher einzigen Mal. Steaua spielte in Bukarest gegen Poli Temeswar und gewann 4:1. Ich berichtete über das Meisterschaftsspiel für die Neue Banater Zeitung (NBZ). Da Miodrag wegen Gelber Karten gesperrt war, konnte ich ihn leichter interviewen als seinen Kollegen Gheorghe Hagi. Den besten rumänischen Fußballer aller Zeiten befragte ich nach dem Spiel. Am nächsten Tag trat Thomas Berthold mit Hellas Verona im UEFA-Pokal bei Sportul Studențesc in der rumänischen Hauptstadt an. Auch ihn interviewte ich für die Temeswarer NBZ. Alle drei schrieben eine Widmung für die Leser, die in der Zeitung abgedruckt wurde. Drei Jahre später sollte Berthold in Rom unter Teamchef Beckenbauer Weltmeister mit Deutschland werden.
Ein Jahr nach unserem Interview reiste Belodedici mit einem Besucherpass zu Verwandten nach Jugoslawien, kehrte nicht mehr nach Rumänien zurück, wurde wegen Fahnenflucht in Abwesenheit zu zehn Jahren Haft verurteilt und konnte erst nach einer einjährigen Sperre für Roter Stern Belgrad auflaufen. Mit den Serben gewann er 1991 in Bari zum zweiten Mal den Landesmeisterpokal gegen......Olympique Marseille, ebenfalls im Elfmeterschießen. Inzwischen war Franz Beckenbauer Technischer Leiter bei den Franzosen. Endlich konnte Beldodedici sein Idol leibhaftig sehen.
Ich zücke mein Handy und rufe Belo in Rumänien an. Er geht sofort ran und wir plaudern nach knapp 37 Jahren über die guten alten Zeiten. Selbstverständlich befrage ich ihn zum Kaiser. Und prompt erzählt er mir eine interessante Anekdote: "Nach dem Schlusspfiff bin ich zur französischen Ersatzbank gerannt und habe Beckenbauer die Hand geschüttelt. Sprechen konnte ich ihn nicht, weil er wegen der Niederlage ziemlich angefressen war. Aber ich hatte meinen Wunschtraum erfüllen und dem großen Beckenbauer wenigstens die Hand reichen können. Schade, dass dieser außergewöhnliche Fußballer viel zu früh gestorben ist." Zwei Jahre später sollte Olympique doch noch den Pokal gewinnen, mit einem anderen Deutschen: Rudi Völler. Doch da war Beckenbauer schon weg und paar Monate später Trainer bei seinen Bayern geworden.
Belodedici konnte erst nach dem Umsturz nach Rumänien zurückkehren. Er reist, sooft er kann, heim ins Banat. "Das mache ich aber nur, wenn mich die Bukarester lassen", scherzt er, der beim Rumänischen Fußball-Verband als Berater des Präsidenten arbeitet. Seine Mutter Danica lebt in Sokol.
"In Marseille war ich mal bei einem Freundschaftspiel. Eine wunderschöne Stadt am Meer, deren Landschaft mich an meine Heimat erinnert. So ähnlich sieht es im Donau-Defilee nahe meines Geburtsortes bei Basiasch aus", schwärmt er. Ich kann ihn gut verstehen. Gerti und ich sind drei Stunden von Marseille aus mit dem Schiff im Calanques-Nationalpark unterwegs, sehen steile Kalksteinfelsen aus dem klaren türkisblauen Wasser ragen und paradiesische verträumte Buchten.
Die zweitgrößte französische Stadt ist durch und durch sportlich. Wir besuchen die in einem eleganten Wohnviertel mit zahllosen Villen, Treppen und Aussichtspunkten gelegene Marina du Roucas-Blanc, wo im Sommer die olympischen Segelwettkämpfe ausgetragen werden. Segeln ist Nationalsport in Frankreich. Erwartet werden 600 Teilnehmer aus der ganzen Welt. Und im Vélodrome findet ein olympisches Halbfinale im Fußball statt. Aber auch Rugby hat Marseille fest im Griff. Davon können wir uns überzeugen, als im seit Monaten ausverkauften Vélodrome das Eröffnungsspiel des traditionsreichen Sechs-Nationen-Turniers zwischen Frankreich und Irland ausgetragen wird. Tagelang ist die Stadt eine Symphonie in Blau der französischen und Grün der irischen Fans. Sie lassen Marseille noch mehr vibrieren als sonst.
Während unseres Aufenthaltes sind wir im Schnitt täglich 16 Kilometer zu Fuß kreuz und quer durch die vielen engen, verwinkelten Straßen unterwegs, saugen alles auf, was wir können. Gesucht haben wir keine Kriminalität, aber auch keine gefunden, pardon, erlebt. Fernandel sagte mal: "Es kann passieren, was will. Es gibt immer einen, der es kommen sah." Als hätte er damit auch die Marseille-Warner gemeint. Natürlich gibt es Explosionen, sogar jeden Abend. Doch sie sind lautlos und spektakulär. Weil die Sonne vor dem Schlafengehen noch schnell den Pinsel aus der Staffelei hervorkramt und in ihrem Farbrausch ein buntes Feuerwerk an den nächtlichen Himmel malt, das den Alten Hafen in ein magisches Licht taucht.
Auch tagsüber verzaubert sie mit ihren Strahlen Marseille. Das helle Licht ist betörend. Es passt bestens zu den winterlichen Frühlingstemperaturen. Im Februar räkeln sich die Leute auf dem goldbraunen Sandstrand, viele laufen in T-Shirts und Shorts herum, baden im Meer. Mitten in Europa, aber wie auf einem anderen Stern! So ist auch die Kulisse, in der wir meinen Geburtstag begehen. Draußen tanzen die schillernden Farben der untergehenden Sonne am sternenklaren Firmament über dem Alten Hafen schwungvoll einen knalligen Cancan. So ähnlich, wie wir ihn anderthalb Jahre vorher im legendären Varietétheater Moulin Rouge in Paris live auf der Bühne erlebt haben. Drinnen lassen wir uns in einem urigen Restaurant fangfrischen Wolfsbarsch mit nach Knoblauch riechender lokaler Aiolisoße servieren und dazu einen provenzalischen Wein munden.
Die Sehnsucht bleibt, als Marseille geht. Doch unser nächstes Reiseziel Vietnam kommt schon bald. La vie est belle! Cuộc sống tươi đẹp!
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