In 61 Spielzeiten gab es 57 Vereine in der Bundesliga. Über vier habe ich als Sportjournalist für BILD berichtet: Stuttgarter Kickers, SSV Ulm, SC Freiburg und VfB Stuttgart. (Siehe den persönlichen Rückblick auf 60 Jahre Bundesliga bei den Verlinkungen ganz unten auf dieser Seite). Fast wären es fünf geworden. Doch Trainer Uli Stielike scheiterte 1995 mit Waldhof Mannheim auf der Zielgeraden. Mit dem VfB erlebte ich 1992 am letzten Spieltag in Leverkusen den vierten Gewinn der Deutschen Meisterschaft.
In den mehr als 22 Jahren bei der größten europäischen Zeitung bekam ich es mit verschiedenen Bundesligatrainern zu tun wie Jürgen Sundermann, Winfried Schäfer, Ralf Rangnick, Klaus Toppmöller, Wolfgang Wolf, Rainer Zobel, Rolf Schafstall, Hermann Gerland, Lorenz-Günther Köstner, Dragoslav Stepanović, Martin Andermatt oder Robin Dutt. Bis auf Volker Finke, den ich während seiner 16 Jahre beim SC Freiburg erlebt habe, ist mir kein anderer Coach in unangenehmer Erinnerung geblieben. Nicht, weil er als Exzentriker einen Brilli im Ohr oder eine selbstgedrehte Zigarette im Mund hatte, sondern wegen seiner merkwürdigen Umgangsformen. Ein Studienrat, der oberlehrerhaft auftrat, eitel, besserwisserisch, selbstgefällig, unwirsch. Finke war ein Trainer mit drei Gesichtern, pardon Meinungen. "In der Regel habe ich drei Meinungen. Eine für mich, eine für den Präsidenten und eine für die Presse", pflegte er zu sagen. Merkwürdig. Stellte ihm ein Journalist eine Frage, die nicht seiner Meinung entsprach, kam es vor, dass er ihn einfach stehen ließ. Offensichtlich kannte Finke nicht den Spruch von Georg Christoph Lichtenberg, dem Meister des geschliffenen Aphorismus: "Nichts kann mehr zu einer Seelenruhe beitragen, als wenn man gar keine Meinung hat." Ähnlich wie mir erging es auch anderen Kollegen aus der Stuttgarter Redaktion von BILD, die für den Sport-Club zuständig war. Wir fuhren nur ungern zu den Freiburger Spielen, mussten es aber - und mit der Situation nolens volens zurechtkommen. Zum Glück habe ich nicht nur über den SC berichten müssen.
Natürlich gab es auch freundliche Menschen im Verein. Gerne erinnere ich mich an Achim Stocker, 37 Jahre Vorsitzender des Sport-Clubs. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Oft fuhr ich nicht nur zu den Spielen, sondern während der Woche zum Training nach Freiburg. Sprach mit dem einen oder anderen Spieler. Mein erster Weg führte mich jedes Mal ins schlichte Büro von Stocker. Dort redeten wir über Gott und die Welt. Manchmal gab er mir exklusive Infos, die ich für die Berichterstattung verwenden durfte, wie jene über die Nichtabstiegsprämie (Siehe Faksimile).
Stocker ließ Taten statt nur Worte sprechen. Er war sich nicht zu schade, zusammen mit seiner Frau Brötchen für die Pressekonferenzen zu schmieren, um Geld zu sparen. Als ehemaliger Fußballer kannte er sich bestens in der Szene aus, holte den unbekannten Volker Finke nach Freiburg. Stocker und Finke hätten gegensätzlicher nicht sein können. Auf der einen Seite ein wertkonservativer Mann, der es bis zum Regierungsdirektor der Freiburger Oberfinanzdirektion gebracht hatte. Auf der anderen ein sozialkritischer Gymnasiallehrer mit sozialdemokratischem Hintergrund.
Der SC-Boss gab seinem Trainer freie Hand, weil mit diesem der Erfolg im Verein einkehrte. Finke nutzte das aus und führte Strukturen ein, die zum Teil bis heute bestehen. Weil Berater bis sechs Monate vor Vertragsende keinen Kontakt zu Spielern wegen eines Transfers aufnehmen dürfen, bestimmte Finke, dass die Vertragsdauer seiner Fußballer nicht öffentlich bekanntgegeben werden darf. Mir ist kein anderer Verein bekannt, der eine solche Geheimniskrämerei betreibt. Merkwürdig.
Finke saß eine Zeit lang nicht auf der Trainerbank im Dreisamstadion, sondern in einem Strandkorb. Diesen hatte ihm die Kurverwaltung von Langeoog für zehn Jahre Trainingslager auf der Nordseeinsel geschenkt. Ein Strandkorb gehört ans Meer, aber nicht an einen Fluss wie die Dreisam im idyllischen Schwarzwald, die am alten Stadion vorbeifließt und ihm ihren Namen verlieh. Merkwürdig.
Volker Finke hätte gerne weiter im Strandkorb gesessen. Doch nach 16 Jahren war es aus und vorbei mit der Herrlichkeit des Trainers in Freiburg. Stocker saß zwar nicht in einem Strandkorb, aber am längeren Hebel. Als er Finke nach dem verpassten Bundesligaaufstieg mit einem Blumenstrauß im Stadion verabschieden wollte, "brüskierte" ihn dieser laut Tagesspiegel. "Die Verabschiedung geriet zur Posse", schrieb die Zeitung aus Berlin. Finkes Nachfolger stand da schon längst fest. Stocker hatte mal wieder ein gutes Näschen bewiesen und ein vielversprechendes Trainerjuwel in der Regionalliga entdeckt: Robin Dutt von den Stuttgarter Kickers. Die Rechnung des langjährigen SC-Vorsitzenden ging voll auf. Dutt führte den unter Finke abgestiegenen SC in die Bundesliga zurück.
Für mich war Robin Dutts Verpflichtung eine erfreuliche Kehrtwende in der Berichterstattung über den Sport-Club. Wir kannten und schätzten uns seit fünf Jahren von den Kickers. Der kicker beschrieb Dutts Wirken in Freiburg so: "Geprägt hat er den Klub ebenso [wie Finke]. Aber auf seine Weise: Sachlich und analytisch im Tonfall. Geschickt und geschliffen in der Rhetorik. Akribisch und innovativ in der täglichen Arbeit. Ehrgeizig und strategisch hinsichtlich der Fortentwicklung des Teams, sowie modern und variabel in der Spielidee.“ Sätze, die ich über Finke nie gelesen oder gehört habe.
Verständlich, dass Dutt schnell anderweitig Interesse weckte und seine Karrierekurve steil nach oben zeigte. Mit nur vier Vereinswechseln schaffte er es aus dem unterklassigen Amateurbereich, Trainer eines Champions-League-Teilnehmers zu werden. Bayer Leverkusen kaufte ihn aus seinem beim Sport-Club vorzeitig verlängerten Vertrag raus. Von Leverkusen ging er als Sportdirektor zum Deutschen Fußball-Bund (DFB), anschließend als Trainer zu Werder Bremen und von dort als Sportvorstand zum VfB Stuttgart. Stationen, von denen Volker Finke nur träumen durfte. Vier Jahre nach seinem Abgang aus Freiburg fand er wieder einen Bundesligajob, wurde Sportdirektor beim 1. FC Köln und gegen Saisonschluss zusätzlich Aushilfstrainer. Doch nach nur einem Jahr kam sein vorzeitiges Aus bei den Geißböcken. Der Spiegel überschrieb einen Bericht darüber mit "Der Spalter". Das passte wie die Faust aufs Auge. Denn schon in Freiburg hatte Finke gespaltet.
Sein Förderer Achim Stocker verstarb vor knapp 15 Jahren an einem Herzinfarkt. Es war mir eine Ehre, an seiner Trauerfeier im Dreisamstadion teilzunehmen und für BILD zu berichten (Siehe Faksimile). Der baden-württembergische Ministerpäsident Günther Oettinger sagte auf der Zeremonie: "Achim Stocker war schon zu Lebzeiten eine Legende" und DFL-Präsident Reinhard Rauball: "Der imponierende Weg des SC war sein Lebenswerk." Stockers Nachfolger wurde Fritz Keller. Ein netter Mann, hervorragender Winzer, ausgezeichneter Gastronom. Und auch ein ebensolcher Fußballfachmann? Na ja. Nicht wenige wunderten sich, als er DFB-Präsident wurde. Doch nach nur zwei Jahren stieß er an seine Grenzen und schmiss hin.
Am 19. Mai 2010 erschien in BILD mein letzter Artikel über den SC Freiburg. Die nächsten Trainer Marcus Sorg und Christian Streich habe ich nicht mehr erlebt. Sorg kenne ich von den Stuttgarter Kickers und dem SSV Ulm, Streich dagegen nicht. Sein Wirken ist mir aus den Medien bekannt. Dabei sind mir einige Dinge aufgefallen.
Obwohl Streich Germanistik studiert und als Person des öffentlichen Lebens einen besonderen Bekanntheitsgrad hat, sprach er als Bundesligatrainer in den Medien kein Hochdeutsch, sondern Alemannisch. Wollte er anders sein als die anderen Kollegen? Können Sie sich Otto Rehhagel vorstellen, der in der Öffentlichkeit Ruhrpott-Deutsch spricht? Volker Finke, der Interviews auf Plattdeutsch gibt? Jürgen Klopp, Thomas Tuchel und Frank Schmitt, die im Fernsehen schwäbeln? Oder Sebastian Hoeneß, der im Radio Bayrisch spricht?
Offensichtlich gehörte Streichs Slang zum guten Ton in Freiburg. Zeitungen, die seine Mundart "symbadisch" fanden, übersetzten seine Aussagen immer ins Hochdeutsche. Warum druckten sie diese nicht im Dialekt ab? Nur weil sie keine Mundartbeilage haben? Bei der deutschsprachigen Neuen Banater Zeitung (NBZ) im rumänischen Temeswar, wo ich vor der Auswanderung nach Deutschland als Sportjournalist gearbeitet habe, gab es eine solche Beilage. Sie erschien wöchentlich und hieß Pipatsch. So wird im banatschwäbischen Dialekt der Klatschmohn bezeichnet, die Symbolblume der Banater Heide. In der "Pipatsch" habe ich manchmal Sportbeiträge in Mundart publiziert, aber nur dort.
In seiner Abschiedsrede sagte Christian Streich: "Ich bin voller Dankbarkeit und voller Frohniss, dass ich das alles erleben durfte." Ich stutzte. Frohniss, was soll das bedeuten? Der Nutzer Bastian@torhamster04 schrieb auf X, ehemals Twitter: "Bei Frohniss habe ich mich erschrocken." und Füchsletalk@Fuechsle_talk: "Wir sind, glaube ich, alle gerade nicht „voller Frohniss“, sondern haben eine Träne im Auge." Ich fragte die Pressestelle des SC Freiburg nach der Bedeutung des Wortes. "Der Duden kennt Frohniss nicht", lautete die Antwort. Das wollte ich noch genauer wissen und wandte mich an den Duden. Von dort teilte mir Nicole Weiffen, zuständig für Pressearbeit und Unternehmenskommunikation, mit: "Bei der Wortschöpfung Frohniss handelt es sich um eine Ad-hoc-Bildung bestehend aus dem Adjektiv „froh" und der Endung „niss“. Diese Bildung ist aber nicht geläufig und kommt in den Wortdatenbanken der Dudenredaktion überhaupt nicht vor. Für Nicht-Linguist*innen wäre es wahrscheinlich am einfachsten zu sagen, das Wort gibt es nicht". Jetzt muss ich mich nicht mehr wundern, dass der kicker Frohniss im Wortlaut von Streichs Rede abgedruckt und nicht ins Hochdeutsche übersetzt hat. Weil ein inexistentes Wort nicht übersetzt werden kann. Streich hat in seinem Anderssein ein Wort erfunden. Merkwürdig. So schnell wird ihm das kein anderer Kollege nachmachen.
Christian Streichs "Frohniss" hätte ein gefundenes Fressen für Humoristen, Kolumnisten, Kabarettisten, Karikaturisten und Glossisten sein müssen. Hätte, hätte, Fahrradkette. Doch sie verwandelten wie schon bei Außenministerin Annalena Baerbocks "360-Grad-Wende" die Steilvorlagen nicht. "Weil....nicht sein kann, was nicht sein darf", wie es Christian Morgenstern 1909 in seinem absurden Gedicht "Die unmögliche Tatsache" formuliert hat. Seinen Nachruhm verdankt das Gedicht diesem zum geflügelten Wort gewordenen Schlussvers. Anno 2024 ist er in Deutschland aktueller denn je.
Aufgefallen ist mir, dass Christian Streich regelmäßig Stellung bezog zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Im Gegensatz zu den anderen Trainerkollegen, die sich an die Redewendung "Schuster, bleib bei deinem Leisten" halten. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb: "Streich vertrat dabei meist jene Position, die dem gerade linksliberalen Zeitgeist entsprach. Migration, Gewalt durch Asylbewerber oder jüngst die dräuende AfD: Der Fussballfachmann referierte zu Themen aus einem breiten Spektrum." Aber nicht über Linksextremismus. Merkwürdig. Ist Streich auf dem linken Auge blind? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Der Sport-Club hegt und pflegt sein Image als der etwas andere Verein. Dazu gehört, dass Streich die Klimaschutzbewegung Friday for Future gut fand, der SC-Kapitän die Binde in den Regenbogenfarben trägt, der Coach mit dem Fahrrad zum Training kam, der Verein das Thema Nachhaltigkeit schon sehr früh für sich entdeckt hat und die erste Photovoltaik-Anlage auf einem deutschen Stadiondach installieren ließ sowie als einer der ersten Klubs in Deutschland Nichtraucherzonen im Stadion einführte.
Wer im Gleichschritt mit dem Zeitgeist marschiert, der wird vom Mainstream goutiert und hofiert. Kein Wunder, dass die Massenmedien den Sport-Club aus der Grünenhochburg Freiburg über den grünen Klee loben. Zumal die meisten deutschen Journalisten laut Umfragen linker und grüner sind als die Bevölkerung. Weshalb es nicht selten Unterschiede zwischen der öffentlichen und veröffentlichten Meinung gibt.
Ohne Zweifel: Finke und Streich haben den Sport-Club in der Bundesliga etabliert. Doch so außergewöhnlich, wie in den Medien dargestellt, waren ihre Erfolge nicht. Finke stieg mit dem SC dreimal auf und ab. In meinem Geburtsland Rumänien hat man Fahrstuhlmannschaften ABBA genannt. Nicht wegen der schwedischen Popgruppe, sondern weil sie aus der A- in die B-Liga ab- und aus der B- wieder in die A-Liga aufgestiegen sind. Finke war 16 Jahre Trainer beim SC. Frank Schmidt ist es seit 17 Jahren beim kleineren FC Heidenheim, den er aus der Oberliga bis in die Bundesliga und dort in der Premierensaison gleich in den Europapokal geführt hat. Das ist Finke in seiner ersten Bundesligaspielzeit mit dem Sport-Club nicht gelungen. Streich war mehr als 12 Jahre Cheftrainer beim SC, Otto Rehhagel 14 Jahre bei Werder Bremen. Streich stieg mit dem SC einmal ab und auf. Rehhagel gewann mit Aufsteiger Kaiserslautern auf Anhieb die Deutsche Meisterschaft, was Finke und Streich mit dem SC weder als Aufsteiger noch als Erstligist gelungen ist. Beide Freiburger Trainer qualifizierten sich mit dem SC als Bundesligist (Finke/Streich) sowie als Bundesligaaufsteiger (Streich) für den Europapokal. Union Berlin schaffte das als Drittliga-Klub 2000/01. Streich stand mit Erstligist Freiburg 2022 im Finale um den DFB-Pokal. Mit Kickers Offenbach und Hannover 96 gewannen zwei Zweitligisten den Wettbewerb. Soviel zu den Fakten.
Fakt ist, dass es sich beim Breisgau um eine landschaftlich reizvolle Region mit südländischem Flair handelt, in der es ziemlich geruhsam zugeht, auch medial. In Freiburg gibt es nur eine große Zeitung, im Gegensatz zu Medienstädten wie München oder Hamburg. Vielleicht war das ruhige mediale Umfeld mit ein Grund, warum Finke und Streich so lange beim SC geblieben sind. Aber trotz aller Ruhe kriselte es nicht selten in der Zusammenarbeit zwischen der lokalen Badischen Zeitung (BZ) und Finke. Davon hat mir mein Kollege Robert Kauer viel erzählt. Er arbeitete bei BILD, war später 16 Jahre Chef des Sportressorts bei der BZ. 2003 ist Kauer viel zu früh verstorben. Er wurde nur 55 Jahre alt.
Der Sport-Club Freiburg feiert in diesem Jahr sein 120. Vereinsjubiläum. Das genaue Gründungsdatum ist unbekannt. "Es geht nirgends so merkwürdig zu wie auf der Welt", meinte der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky. Nichtsdestotrotz: Alles Gute, SC Freiburg!
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